Eine Zeitlang hatten wir viel Arbeit mit Bremsscheiben von Lokomotiven.

Und zwar nicht mit denen, die an den Rädern sitzen, sondern denen, die direkt am Ausgang des Elektromors angebracht sind. Diese Bremsscheiben sind kleiner als die an den Radbremsen. Sie laufen schneller, weil sie direkt auf der Antriebesachse sitzen. Einer ihrer Vorteile ist, dass sie deutlich weniger Geräusche machen, wie die aussen liegenden Radbremsen. Ihr Nachteil ist, dass sie bei bestimmen Einsatzgebieten schnell heiss werden und nur eine bestimmte Zeit lang betrieben werden dürfen. Man kann sie z.B. dafür verwenden, einen Zug nur etwas abzubremsen, wenn ein Streckenabschnitt kommt, der langsamer durchfahren werden muss. Dann muss aber eine Abkühlphase folgen.

Soviel an technischen Details zum besseren Verständnis.

An einem Montag Vormittag erhielten wir einen Anruf vom Leiter der Bremsen-Entwicklung: "Wie schnell können sie den Aufheiz- und Abkühlvorgang einer Motorbremsscheibe berechnen? Uns ist eine Bremsscheibe im Probe-Betrieb geplatzt und hat erheblichen Schaden an der Lokomotive angerichtet. Am Freitag dieser Woche ist das Katastrophen-Meeting. Bis dahin müssen wir wissen, ob die Bremsscheibe bei vorschriftsmäßiger Belastung Schaden nehmen würde". Kurz unsere Kapazität überschlagen: "Ja, es geht. Aber nur, wenn wir noch heute Nachmittag damit anfangen, weil die Rechenzeiten sehr lang sein werden" (das war vor ca. 20 Jahren!). "Was würde das kosten?" ich sagte ihm, dass er mit ca. 65.000 DM rechnen müsse. "Gut, fangen Sie sofort an!"

So weit so gut. Wir teilten uns die jetzt erforderlichen Arbeiten ein und legten los. Am späteren Nachmittag ein Anruf von der Firma. Es war nicht der Leiter der Entwiclung, sondern ein Mann vom Einkauf mit der Frage, ob wir denn mit der Arbeit schon begonnen hätten. ich bestätigte und musste mir nun deutlich sagen lassen, dass das so ja nicht gehe! Er hätte kein schriftliches Angebot von uns und überhaupt bräuchte er erst mindestens 3 Angebote, um vergleichen zu können. Wir sollten ihm ein offizielles, verbindliches Angebot schicken und dann mit der Arbeit erst beginnen, wenn wir einen schriftlichen Auftrag bekommen hätten. Was ja nicht sicher wäre, da er erst vergleichen müsse!

Na, das waren ja "gute" Nachrichten! Was nun? Die Dringlichkeit, mit der Dr. B. mich vormittags angesprochen hatte, liess mir keine Ruhe. In der Hoffnung, dass er nocht Feierabend gemacht hätte und vielleicht noch im Büro erreichbar wäre, rief ich bei ihm an. Er war noch da! Ich schilderte ihm die neue Situation und erlebte einen Dr. B., wie ich ih noch nie zuvor (und auch darnach nicht mehr) erlebt hatte. Ich hatte ihn zwar nur am Telefon, aber mir drängte sich die uralte HB-Werbung auf. Ich konnte  hören, wie er in die Luft ging:

"Wir stehen vor der Situation, dass wir hundertausende an Regress bezahlen müssen, wenn der Schaden durch unsere Schuld entstanden ist! Diese Berechnung ist die einzige Chance, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen! Von mir aus kann die Berechnung auch hunderttausend DM kosten! Hauptsache, wir können (wenn möglich) nachweisen, dass wir nicht Schuld sind!"

So ging es noch eine Weile weiter. Meine Frage an ihn: "Was sollen wir jetzt tun, Herr Dr. B.?"

"Weitermachen, natürlich! Sofort weitermachen! Ich kümmere mich drum, dass sie morgen früh den schriftlichen Auftrag bekommen!"

Am nächsten Morgen erhielten wir, wie versprochen, den schriftlichen Auftrag. Von diesem Einkäufer haben wir nie wieder etwas gehört. Sein Versuch, zu sparen, was auch das Unternehmen kosten würde, kam wohl nicht so gut bei der Geschäftsleitung an.

Nachbemerkung: Die Berechnung wurde knapp, aber termingerecht am Abend vor der entscheidenden Besprechung fertig. Das Ergebnis zeigte einwandfrei, dass bei Einhaltung der vorgeschriebenen Abkühlzeiten die Scheibe nie überhitzen würde. Sie war offensichtlich missbräuchlich betrieben worden.  Der Bremsenhersteller hat unsere Rechnung prompt bezahlt und wir haben noch einige andere Projekte in der Folge für ihn durchführen dürfen.